Wilde Tiere sind (...)
Lin Olschowka
"Wilde Tiere sind herrenlos, solange sie sich in der Freiheit befinden"
4. Februar - 9. März 2023
In ihrer Ausstellung bei wieoftnoch präsentiert Lin Olschowka eine Serie neuer Malereien auf kleinformatigen Holztafeln. Die Werke zeigen ganz unterschiedliche Motive:
Eine Hand, die eine Tür aufschließt. Am Schlüsselbund hängt ein Anhänger in Form eines Paares beim Sex.
Zwei Männer, die mit dem Rücken zueinander in einem Raum sitzen. Der eine greift von hinten in die Jackentasche des anderen.
Vögel verschiedener Gattungen.
Drei Personen auf der Anklagebank, ihre Gesichter verstecken sie hinter Aktenordnern.
Der Blick auf ein Fenster, an dem ein gehäkelter Vorhang hängt. In seinem Muster taucht wieder ein Vogel auf.
Die meisten der Vorlagen stammen aus Lin Olschowkas Archiv gefundener Bilder. Bevor sie beginnt, diese auf den Bildträger zu übertragen, bringt sie einen Kreidegrund auf die Holztafeln auf. Diese Malschicht verleiht der Acrylfarbe eine besondere Textur – sie wirkt weich und wächsern, ein bisschen wie Enkaustik. Lin Olschowka setzt kurze, präzise Pinselstriche. Drei schwarze Striche, um auf dem braunen Oberteil des Angeklagten den Faltenwurf seiner Achselhöhle anzudeuten. Die Malweise, aber auch die Wahl des Bildmotivs erinnert an Uwe Lausen. Lin Olschowkas Serie ist als Ganzes aber zurückhaltender. Die kleinen Tafeln, frei im Raum arrangiert, haben etwas Feines. Es sind Miniaturen, die ihr Geheimnis nicht sofort preisgeben.
Das Motiv der Hand, die mit einem Sex-Schlüsselanhänger eine Tür aufschließt, wiederholt sich auf mehreren Bildern. Die expliziten Darstellungen zeigen, was Sex der klassischen Definition nach ist: Ein Körper dringt mit seinen Extremitäten in einen anderen ein. Innerhalb des Bildes wird dieser invasive Akt durch den im Schloss steckenden Schlüssel dupliziert.
Das Eindringen, das körperliche Überschreiten von Grenzen zieht sich als Thema durch viele der Bilder: Der Griff des Mannes in die Tasche des anderen – ein Trickdiebstahl, dessen Geschick und Eleganz Lin Olschowkas Malerei einfängt, – ist eine solche invasive Handlung. Die Form der geöffneten Jackentasche wiederholt sich in den weit aufgerissenen Schnäbeln der Jungvögel in ihrem Nest. In einem abstrakteren Sinne ist das Eindringen auch das Thema des Bildes von den Angeklagten vor Gericht: Die gesamte Architektur des Raumes ist darauf ausgerichtet, die Täter mit Blicken zu durchdringen. Dieses Blickregime wird hier durch eine Scheibe verstärkt, die vor den Angeklagten angebracht ist. Sie macht die Männer noch mehr zu Objekten – eine Instrumentalisierung, der sie sich durch das Verdecken ihrer Gesichter zu widersetzen versuchen.
Lin Olschowka geht es nicht um einen konkreten Gerichtsprozess. Ebenso wenig um eine moralische Bewertung der Vorgänge, die sie in ihren Bildern schildert. Stattdessen rückt sie den Fokus auf den motorischen, transitiven und körperlichen Moment, der die dargestellten Grenzüberschreitungen kennzeichnet. Sie interessiert sich für Reize und wie sie unmittelbar nach ihrer Wahrnehmung eine Instinktbewegung auslösen, die jenseits des Rationalen liegt. Vielleicht kommt in den Bildern auch eine Verwunderung über die Kuriositäten zum Ausdruck, die im Zusammenhang mit Bedürfnisbefriedung zutage treten: Die weit aufgerissenen Schnäbel der Jungtiere lösen bei Vögeln den Reflex aus, bereits geschluckte Nahrung hochzuwürgen und zu verfüttern. Im Falle von Möwen glaubt man, dass der rote Punkt an ihren Schnäbeln ihren Nachwuchs instinktiv dazu verleitet, auf ihn zu picken, um so den Fütterungsreflex zu animieren. Der Punkt als Marker; ein grafisches Zeichen, das eine Handlung auslöst, ohne dass Kommunikation nötig ist.
Lin Olschowkas Bilder handeln von diesem Aufeinander-Bezogen-Sein. Aber auch davon, wie diese Vorgänge stecken bleiben. Etwa wenn sich die Tür nicht öffnet, weil man versucht, sie von beiden Seiten aufzuschließen. Lin Olschowka vollzieht diesen Prozess nach, in dem sie dasselbe Motiv jeweils spiegelverkehrt auf zwei nah beieinander hängenden Bildern miteinander verschränkt. Dadurch entsteht ein installativer Moment, der bereits in ihren früheren Werken wie Kastor und Pollux (2022) zutage trat. Etwas, das für die Arbeit bedeutsam ist, liegt nicht in der Bildfläche, sondern in dem Raum, der sie umgibt. Zwischen zwei Bildern spannt sich eine Bedeutungsebene auf, die gemeint, aber nicht explizit bezeichnet wird.
Als mir Lin ihre Arbeiten im Atelier zeigt, sprechen wir über die Oberflächen der Bilder. Es stellt sich heraus, dass wir unterschiedliche Annahmen über deren Beschaffenheit haben. Um mich von deren Glätte zu überzeugen, fordert sie mich auf, die Werke zu berühren. Auf ihr Geheiß gebe ich einem Bedürfnis nach, das mich oft bei der Betrachtung von Kunst überkommt. Ich vollziehe einen Übergriff, der das, was auf den Bildern erzählt wird, im Realen verdoppelt.
Sebastian Schneider